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Epidemiologie - Modellieren der Ausbreitung von Krankheiten

March 17, 2020

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Epidemiologie ist die Wissenschaft von der Ausbreitung von Krankheiten. Wie in vielen wissenschaftlichen Disziplinen gibt es mathematische Modelle, mit denen man versuchen kann, die Ausbreitung zu beschreiben. Wir werfen heute einen Blick auf ein grundlegendes Modell.

Hinweis: Ich bin kein Epidemiologe, sondern Mathematiker und Modellierer. Ich hoffe, mit diesem Überblick ein wenig zum Verständnis für Ausbreitung von Krankheiten wie CoViD-19 beizutragen. Insbesondere sind meine Annahmen für die Parameter "aus der Luft gegriffen" und die Erklärungen allgemeinverständlich gehalten.

Wir haben hier einiges vor:

  • Wir lernen ein klassisches epidemiologisches Modell, das SIR-Modell, kennen. Dieses ist "zu einfach", gleichzeitig sind aber viele aktuelle Modelle Modifikationen dieses Modells.
  • Wir sehen, welche Rolle Kennzahlen wie die Basisreproduktionszahl spielen und wie die minimale Herdenimmunität abgeleitet wird.
  • Wir schauen uns an, was eigentlich hinter dem "flatten the curve"-Mantra steckt und bestimmen den erwarteten Krankenstand am Höhepunkt der Epidemie und können ein Gefühl dafür bekommen, wie stark man infektionsrelevante Kontakte einschränken muss, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.
  • Wir werfen einen Blick auf Grenzen des Modells.
  • Wir haben einen Web-Simulator für das SIR-Modell, damit man selbst variieren kann.
  • Auf GitHub habe ich ein Jupyter-Notebook für eigene Experimente.

Ein einfaches epidemiologisches Modell

Eines der grundlegendsten Modelle in der Epidemiologie ist das sogenannte SIR-Modell (englisch Susceptible to Infectious to Recovered) dass letzlich auf Kermack und McKendrick (eine Arbeit von 1927) zurückgeht.

Das SIR-Modell ist auf Krankheiten anwendbar, gegen die der Körper eine Immunität besitzt, wenn man sie einmal hatte oder geimpft ist.

Wir stellen uns vor, dass man die Bevölkerung in drei Gruppen einteilen kann: - Ansteckbar (also noch gesund), - Infiziert (also krank oder ansteckend, auch ohne, dass die Krankheit ausgebrochen ist), - Genesen bzw. Geimpft (und damit nicht mehr ansteckbar und nicht mehr gesund).

Jeder Mensch ist zu jeder Zeit in einer der drei Gruppen. Ein Übergang ist möglich von Ansteckbar zu Infiziert sowie von Infiziert zu Genesen. Wir nehmen an, dass keine anderen Übergänge möglich sind. Inbesondere sind alle geimpften direkt zum Start geimpft.

Wir nehmen an, dass es insgesamt $N$ Personen gibt (und $N$ so groß ist, dass wir in "Teilen" modellieren können). Nach den englischen Begriffen nennen wir $S$ die Anzahl der ansteckbaren Personen, $I$ die der Infizierten, und $R$ die der Genesenen. Diese sind Funktiontionen (also für jede Zeit $t$ definiert), die wir $S(t)$, $I(t)$ und $R(t)$ nennen. Die Gesamtzahl $N$ ist unabhängig von $t$.

Ein Sachverhalt, den wir hier vernachlässigen, sind Geburten und Todesfälle (oder Umzüge etc.). Meist sind diese gering im Vergleich zur Dynamik zwischen zwischen $S$, $I$, und $R$. Damit wird unser Modell zu einem geschlossenen System, es gilt immer

$$S(t) + I(t) + R(t) = N.$$

Wir beschreiben die Geschwindigkeit der Änderungen mit Ableitungen, die wir mit $\dot S$, $\dot I$ und $\dot R$ beschreiben. Aus der Gleichung für das geschlossene System erhalten wir die Gleichgewichtsbedingung

$$\dot S(t) + \dot I(t) + \dot R(t) = 0.$$

Ansteckung

Wir führen eine positive Rate $\beta > 0$ ein, die angibt, an wie viele Personen eine infizierte Person pro Zeiteinheit Krankheitserreger in einem relevanten Maß weitergibt. Wie so oft geben wir hier Raten als Ableitungen an, auch wenn wir vielleicht eher daran gewöhnt sind, Raten von einem Zeitschritt als zum nächsten Anzusehen. Wenn man das mit Verzinsungsprozessen vergleicht, ist dies hier das Äquivalent zur stetigen Verzinsung. Dennoch haben die Koeffizienten $\beta$ und $\gamma$ als Einheit $\frac{1}{Zeiteinheiten}$, also zum Beispiel Anzahl pro Tag.

Wenn wir davon ausgehen, dass alle Personen aus der Gesamtheit gleich wahrscheinlich der Empfänger ist, treffen die Erreger mit Wahrscheinlichkeit $S(t) / N$ eine ansteckbare Person, die dann in den infizierten Zustand wechselt. Das dies für $I(t)$ Personen gleichzeitig passiert, ist also die Übergangsrate - mit der die Anzahl der ansteckbaren, gesunden abnimmt - gerade $\beta S(t)I(t) / N$, es gilt also

$$ \dot S(t) = - \frac{\beta S(t)I(t)}{N}. $$

Genesung

Für die Modellierung der Genesung haben verschiedene Möglichkeiten. Wir könnten zum Beispiel eine Annahme darüber treffen, wie lange die Krankheit dauert. Wir machen es hier uns einfach, und führen eine Gesundungsrate $\gamma$ ein, also der Anteil der infizierten Personen, die pro Zeiteinheit gesunden. Diese erhöht die Zahl der Genesenen, es gilt also

$$ \dot R(t) = \gamma I(t). $$

Wir sehen später auch noch, wie $\gamma$ mit der Krankheitsdauer zusammenhängt.

Gleichung für die Infizierten

Durch Einsetzen der Gleichungen für Ansteckbare und Genesene in die Gleichgewichtsbedingung erhalten wir

$$ \dot I(t) = - \dot S(t) - \dot R(t) = \left(\beta \frac{S(t)}{N} - \gamma \right) I(t). $$

Invarianz gegenüber der Gesamtzahl

Wir können von absoluten Größen $S$, $I$, $R$, zu relativen Größen $s = S/N$, $i = I/N$ und $r = R/N$ übergehen, dann sind die Gleichungen dieselben wie für $N=1$. Aufgrund dieser Invarianz können wir auf $N=1$ übergehen und $S$, $I$ und $R$ als Anteile an der Gesamtbevölkerung ansehen. Das machen wir im Folgenden.Das Modell ist - bis auf die Krankheitsdauer - einem Modell für die nukleare Kettenreaktion sehr ähnlich: $S$ ist dann der Anteil des brennbaren Materials und $R_0$ ist der Multiplikationsfaktor der Neutronenbilanz. $R$ ist dann das abgebrannte oder nicht-brennbare Material. $I$, proportional zur Intensität der Reaktion, ist in dieser Anschauung etwas schwierig, vermutlich wäre auch $\gamma$ sehr groß. Die berühmte Mausefallen-Vorführung aus der Sendung mit der Maus zu Kernkraft ist ab ungefähr 7:40. Das gibt uns eine Anschauung, warum eine Epidemie so schwer zu kontrollieren sein kann.

Typische Krankheitsdauer

Wenn wir mit nur Kranken beginnen würden (also auch keine Kranken dazukämen), hätten wir die Gleichung

$$ \dot I(t) = - \gamma I(t), $$

also die Gleichung für einen exponentiellen Zerfall. Deren Lösung ist

$$ I(t) = I(0) exp(- \gamma t). $$

Wir können das startend von einer infizierten Person graphisch darstellen:

Krankheitsdauer, abnehmende Infektionsrate

Lesen wir auf der $x$-Achse die Zeit ab (z.B. in Tagen), dann sehen wir auf der y-Achse der Anteil noch kranker Personen: Nach 2 Tagen sind noch ca. 65% der zum Start infizierten Personen krank.

Wir können aber die Fläche unter dem Graphen gedanklich in horizontale Linien aufteilen. Dann erhalten wir Krankheitsdauern. 65% der zum Start infizierten haben eine Krankheitsdauer von mindestens 2 Tagen. Damit ist die Fläche unter dem Graphen die durchschnittliche Krankheitsdauer $T_I$. Wir können sie als Integral ausrechnen:

$$ T_I = \int_0^\infty \exp(-\gamma t) dt = - \frac{1}{\gamma} \exp(-\gamma t) \big|_{t=0}^\infty = \frac{1}{\gamma}. $$

Wollen wir also die Annahme für die Genesungsrate $\gamma$ aus der Krankheitsdauer ableiten, ist also der Kehrwert der durchschnittlichen Krankheitsdauer $\gamma = 1/T_I$. (Wir machen aber mit dem Modell auch eine strukturelle Annahme.)

Man könnte jetzt an Folgendes denken: Geht man im Falle von CoViD-19 davon aus, dass sich die Fälle aus dem "Webasto-Cluster" am 27. Januar infiziert haben und bis zum 27. Februar genesen sind, kommen wir auf ca. 30 Tage Kranheitsdauer (das ist allerdings eher die maximale als die durchschnittliche Krankheitsdauer), oder $\gamma \approx \frac{1}{30} \approx 0.033$. So funktioniert es aber leider nicht. Man müsste vermutlich genauere Beobachtungen haben.

In der Tat verlinkt das Robert-Koch-Institut Studien, die auf eine Inkubationszeit von im Mittel 5-6 Tagen hinweisen und dass Patienten nach Symptombeginn für 8 Tage infektiös waren. Das ist natürlich besser als unsere Freihandschätzung aus Drittquellen und ergäbe eventuell eine Genesungsrate von $\gamma \approx \frac{1}{15} \approx 0.066$. Hier zeigt sich aber eine Schwäche unseres SIR-Modells: Eigentlich möchten wir hier nur die infektiöse Zeit abbilden, nicht aber die Inkubationszeit. Das macht wieder einen Faktor von etwa 2 aus (zumal es auch Schätzungen gibt, die infektiöse Zeit kürzer angeben.) Wenn wir das aber machen, werden wir die Übertragungsrate unterschätzen (da es zu Beginn der Inkubationszeit weniger Infektionen gibt als zum Ende). Daher würde man für eine Krankheit mit substantieller Inkubationszeit eher ein SEIR-Modell mit einer zusätzlichen in der Inkubationszeit befindlichen Teilpopulation (Englisch Exposed) verwenden.

Grobe Schätzung der Infektionsrate $\beta$

Wenn wir annehmen, dass die Genesung anfangs noch keine entscheidende Rolle spielt und fast alle Personen anteckbar sind, können wir eine grobe Schätzung für die Infektionsrate $\beta$ aus der Steigerungsrate der beobachteten Infektionen ermitteln, denn dann reduziert sich die Gleichung für die Infektionen zu der für das exponentielle Wachstum $$ \dot I = \beta I S - \gamma I \approx \dot I = \beta I, $$ es ist also $$ \beta \approx \ln \frac{I(t+1)}{t} $$ In Deutschland wurde vom 12. bis 16. März wurde eine Steigerung von 1567 Fällen auf 6012 Fälle beobachtet. Dies ergäbe ein Infektionsrate von $$ \beta \approx \frac{1}{5} \ln \frac{6012}{1567} \approx 0.26. $$

Wenn wir aber eine Krankheitsdauer von $T_I = 8$ haben, müssten wir vermutlich die Genesund mitberücksichtigen, selbst wenn wir $S/N \approx 1$ annehmen können. Dann erhalten wir aus $$ \dot{\ln I} = \frac{\dot I}{I} = \beta - \gamma \approx 0.26 + 0.125 = 0.385 $$ eine um $\gamma$ korrigierte Schätzung. Auch diese Schätzung wird aber Schwierigkeiten mit der Inkubationszeit haben.

Eine ernsthaftere Schätzung simuliert die Ausbreitung mithilfe des Modells und versucht die Abweichung zwischen Simulation und Beobachtung durch anpassen der Parameter zu schätzen. Das funktioniert für Grippewellen auch relativ gut, bei CoViD scheint die Datenbasis relativ problematisch zu sein.

Die Basisreproduktionszahl

Wenn wir davon ausgehen, dass die Weitergabe der Krankheitserreger mit der Rate $\beta$ erfolgt und die Infektion $T_I$ Tage andauert, dann hat jeder Kranke $R_0 = \beta T_I = \frac{\beta}{\gamma}$ "Infektionskontakte" (wenn die Kontakte alle in $S$ wären, wären es Ansteckungen). Diese Zahl ist immens wichtig und hat daher den Namen Basisreproduktionszahl oder Grundvermehrungsrate. (Bemerkung: Die Benennung der Basisreproduktionszahl $R_0$ hat nichts mit dem Anteil der Gesundeten $R$ zu tun. Hier kommen die typischen Variablennamen aus unterschiedlichen Kontexten.)

Man kann sich überlegen, dass wenn man $\beta$ und $\gamma$ um denselben Faktor multipliziert, dass eine "Zeitskalierung" gleichkommt: Verdoppelt man beide, läuft alles doppelt so schnell ab, d.h. man hat zu $t$ dieselben werte wie zuvor in $2t$. Wir werden sehen, dass die Form des Verlaufs - insbesondere das Maximum an Infektionen - wesentlich von der Basisreproduktionszahl $R_0$ abhängen.

Eine Sache, die man leicht sieht, ist, dass für $R_0 < 1$ die Ableitung von $I$ stets negativ ist (weil $S/N < 1$). Die Anzahl der Infizierten nimmt in diesem Fall sofort ab, es ist dann also - in diesem Modell und im Sinne der Epidemiologie - alles unter Kontrolle.

Auf der englischen Wikipedia gibt der Artikel zur Basisreproduktionszahl für einige krankheiten Schätzer an, für CoViD-19 wird sie auf zwischen $1.4$ und $3.9$ geschätzt. Das Robert-Koch-Institut nennt 2.4-3.3.

Im Vergleich ist unsere viel zu einfachere Schätzung sehr hoch, sie wäre $\hat R_0 = \frac{0.26}{0.033} \approx 8.1$. Mit $\gamma = 0.125$ (also 8 Tage Infektiös aus der klinischen Beobachtung) und der um $\gamma$ korrigierten Schätzung von $\beta$ wären wir bei $\hat R_0 = \frac{0.385}{0.125} \approx 3.1$. Das ist schon eher im Rahmen dessen, was wir erwarten, hat aber wie oben beschrieben, auch schwächen.

Dies kann ein Indiz dafür sein, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist oder die Inkubationszeit das Modell durcheinander bringt und dazu führt, dass sich die Schätzung mit dem SIR-Modell sehr schwierig zu bewerkstelligen ist.

Ein SIR-Modell zum Experimentieren

Hier ist ein web-basiertes SIR-Modell zum experimentieren mit den Parametern:

Für diese Parameter ist die Gundvermehrungsrate / Basisreproduktionszahl $R_0 = \beta / \gamma $ = (für CoViD-19 geschätzt 1.4-3.9). Der Anteil der gleichzeitig Infizierten $I$ beträgt im Maximum ca. .

Das Maximum der Anzahl der Infizierten

Eine sehr wichtige Frage ist, wieviele infizierte Personen es maximal gleichzeitig gibt. Davon hängt, wenn man annimmt, dass z.B. 5% der Kranken eine intensivmedizinische Behandlung benötigt, zum Beispiel ab, ob das medizinische System überlastet wird. Sobald $5\% \max I > Kapazität$, ist die Not groß (andere Faktoren spielen auch eine Rolle, die Kapazität ist zum Beispiel nicht konstant).

Wir nehmen für die Basisreproduktionszahl $R_0 > 1$ an (siehe oben für $R_0 < 1$).

Bestimmen wir also das Maximum der gleichzeitig Infizierten $I_{max}$. Man kann zeigen, dass dieses Maximum angenommen wird, wir nennen den Zeitpunkt, zu dem dies geschiet $t^*$. Dies können wir nicht direkt bestimmen, sondern bestimmen zunächst $S(t^*)$ und $R(t^*)$ und nutzen dann wieder die Gleichung $S+I+R = 1$ des geschlossenen Systems. (Wir erinnern uns, dass wir $N=1$ annehmen.)

Dieses ist der vielleicht mathematisch anspruchsvollste Abschnitt, man kann ihn auch überspringen und nur das Ergebnis anschauen.

Anzahl $S(t^*)$ der Ansteckbaren am Maximalpunkt für $I$

Dies ist der Fall, wenn die Veränderung der Zahl der Infizierten gerade ihr Vorzeichen von positiv zu negativ ändert bzw. wenn die Ableitung $\dot I(t) = 0$. Für $\dot I(t)$ haben wir eine Gleichung, also gilt an $t^*$ $$ 0 = \dot I(t^*) = \left(\beta S(t^*) - \gamma \right) I(t^*). $$

Da aber $I > 0$ (andernfalls gibt es keine Infizierten) folgt $$ 0 = \beta S(t^*) - \gamma $$ oder $$ S(t^*) = \frac{\gamma}{\beta} = \frac{1}{R_0}. $$

Damit haben wir $S(t^*)$ bestimmt.

Herdenimmunität

Mit dieser Rechnung können wir auch bestimmen, ab welchem Immunisierungsgrad Herdenimmunität gegeben ist, also wann Infektionsraten von selbst zurückgehen. Dabei wird oft von der umgeformten Gleichung $S(t^*) R_0 = 1$ ausgegangen. Wenn wir (nur für diese Überlegung) annehmen, dass nur vernachlässigbar wenig Infektionen vorliegen, ist der Anteil der Immunisierten also $R(t^*) = 1 - S(t^*)$. Die notwendige Herdenimmunität $HI_{min}$ (english herd immunity threshold $HIT$) ist also $$ HI_{min} = R(t^*) = 1-S(t^*) = 1-\frac{1}{R_0}. $$

Geht man für CoViD-19 von $R_0 \approx 2.5-3.3$ aus, so ist $HI_{min} \approx 60\%-70\%$.

Mein Eindruck ist, dass dies die berühmten 60%-70% sind, die Frau Merkel im Interview erwähnte. Dies setzt aber voraus, dass man, wenn diese Immunität erreicht ist, die zahl der Infizierten nahe $0$ drücken kann. Ist der Ausbruch dann immer noch im vollen Gange, nimmt zwar die Zahl der Infizierten ab, jedoch wird ein signifikanter Teil der noch ansteckbaren Bevölkerung auch noch infiziert werden.

Zusammenhang zwischen den Zahlen der Ansteckbaren $S$ und Genesenen $R$

Um $R(t^*)$ zu bestimmen, können wir einen Zusammenhang zwischen den Zahlen der Ansteckbaren $S$ und Genesenen $R$ herstellen. Dazu eliminieren wir $I$ aus den Gleichungen für $\dot S$ und $\dot R$.

Lösen wir die Gleichungen für $S$ und $R$ nach $I$ auf und setzen sie gleich, so erhalten wir $$\dot S / (-\beta S) = \dot R / \gamma$$

oder, wenn wir den Quotienten $\dot S/S$ als Ableitung des Logarithmus schreiben, $$ \dot {(\ln S)} = \dot S / S = -\frac{\beta}{\gamma} \dot R. $$

Die Methode der Trennung der Veränderlichen lässt uns nun auf beiden seiten in der Zeit integrieren:

$$ \ln S(t) - \ln S(0) = -\frac{\beta}{\gamma} (R(t) - R(0)) $$ und das Exponential ist $$ S(t) = S(0) \exp \left( -\frac{\beta}{\gamma}{(R(t) - R(0))}\right) $$

Anzahlen $R(t^*)$ der Genesenen und $I(t^*)$ am Maximalpunkt für $I$

Wenn also $S(t^*) = \frac{\gamma}{\beta}$, $R(0) \approx 0$ und $S(0) \approx 1$, so ist $$ R(t^*) = R(0) -\frac{\gamma}{\beta} (\ln S(t_{crit} - \ln S(0)) \approx -\frac{\gamma}{\beta} \ln \frac{\gamma}{\beta} $$ und $$I_{max} = I(t^*) = 1 - S(t^*) - R(t^*) \approx 1-\frac{\gamma}{\beta} (1-\ln \frac{\gamma}{\beta} )$$

Das Maximum der gleichzeitig Infizierten in Abhängigkeit der Basisreproduktionszahl

Wie wir sehen, hängt das (approximative) Maximum unter der Annahme, dass anfangs fast die gesamte Population ansteckbar und (dann ja auch gegeben) nahezu keiner genesen ist, nur von der Basisreproduktionszahl ab und zwar als $$ I_{max} \approx 1-\frac{1}{R_0} (1 + \ln R_0). $$ Wir können diesen Zusammenhang graphisch darstellen:

Maximaler Krankenstand vs. R0

Schussfolgerungen

Unter den Annahmen des Modells (eine entscheidende Einschränkung) steigt das Maximum der Anzahl der gleichzeitig Infizierten $I(t^*)$ sehr stark mit zunehmender Basisreproduktionszahl $R_0$.

Wenn man davon ausgeht, dass es in Deutschland ca 25.000 Intensivbetten gibt das sind ca. 3 pro 10000 Einwohner. Nehmen wir an, die Hälfte davon, also 1.5 pro 100000 Einwohner, stünde für CoViD-Patienten mit kritischen Verläufen zur Verfügung. Ferner seien 1.5% aller Verläufe kritisch (das ist relativ zu den geschätzten 5% in China (untere Grafik rechts unter Diagrams) eine eher zu geringe Annahme, aber ggf. sind kritische Fälle auch nur zeitweise kritisch, ich weiß es nicht). Dann würde eine maximale Infektionsrate von $\frac{1.5}{10000} / 1.5\% = 1\%$ kritisch. Im Modell korrespondiert dies zu $R_0 \approx 1.15$, weit weniger als die Spanne von 1.4 - 3.9 auf Wikipedia oder 2.4-3.3 des RKI.

Was also tun?

Auswirkung frühzeitiger Erkennung und Isolation der bekannten Fälle

Es scheint, als sei dies in Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan funktioniert. Bayern hat es am 16. März aufgegeben, weil die Infektionsketten vollkommen unklar sind.

Eine spekulative Anmerkung: Eine wichtige Rolle scheinen (Ski-) Urlaube als Quelle und die Schulen als Übertragungswege gespielt zu haben. Jedenfalls spricht folgendes Zahlenverhältnis aus meiner Sicht dafür: Am 12.3., dem Tag vor der Bekanntgabe der allgemeinen Schulschließung gab es 500 bekannte Fälle und 125 Schulschließungen aufgrund mindestens einem bekannten Fall an den jeweiligen Schulen. Schüler nach den Ferien eine Woche in die Schule gehen zu lassen und dann (erst) unter Quarantäne zu Stellen, wie im Fall von Südtirolurlaubern geschehen, ist vermutlich nicht optimal gewesen.

Wie würde sich als (grob) eine frühzeitige Erkennung auswirken? Ist die Kranheitsdauer $T_I$, man diagnostiziert aber schon nach $T_D$ Tagen und erfolgreich isoliert, steckt jeder Kranke nur noch $\tilde R_0 = \beta T_D$ statt $R_0 = \beta T_I$ an.

Wenn wir $I$ als Anteil der nicht-diagnostiziert Infizierten umwidmen, können wir mit diesem niedrigeren $\tilde R_0$ bzw. $\tilde \gamma = 1/T_D$ rechnen. Es gibt dann $\frac{T_I}{T_D} I$ Infizierte, von denen $I$ nicht diagnostiziert sind.

Allgemeine Isolation

Nun versuchen wir also, wie andere Länder auch, durch Reduktion der Kontakte insgesamt eine Reduktion zu erzielen. Im Modell könnte man annehmen, dass eine Reduktion der Kontakte um einen bestimmten Faktor dieselbe Reduktion in $\beta$ bzw. $R_0$ erzielt. Nur, wie einfach ist es, Kontakte um einen Faktor 3 bis 4 zu reduzieren?

Wir werden es sehen, hoffen wir das beste.

Grenzen des Modells

Einige Auslassungen schmälern die Aussagekraft des Modells nicht: Das Modell beinhaltet keine krankheitsbedingte Sterblichkeit. Kennt man aber die Sterblichkeitsrate $q$, gibt es (bis auf zeitliche Ungenauigkeit) $q R$ Todesfälle und $(1-q) R$ Genesene. Ähnlich funktioniert ja auch die obige Überlegung zum Nutzen umfassender Verfolgung der Fälle.

Einige der impliziten Annahmen muss man aber hinterfragen: - Dem Modell fehlt die räumliche Dimension. Insbesondere ist die Ansteckung unabhängig von der räumlichen Entfernung von Individuen jenseits der mittelbaren Auswirkung über $\beta$ bzw. $R_0$. - Eine Dunkelziffer ist nicht vorgesehen. Jenseits sehr pauschaler Annahmen ist sie auch schwer einzubauen. Vermutlich ist es auch deshalb schwierig, das Modell an Fallzahlen zu kalibrieren. - Die stochastische Dimension wird nicht beachtet. Das ist für ein so grobes Modell wie dieses vermutlich unerheblich, ist dies aber gegebenenfalls für verfeinerte Modelle (z.B. mit räumliche Dimension, Dunkelziffer) könnte es aber eine größere Rolle spielen.

Vielleicht stelle ich in einem Folgebeitrag (dann aber auf Englisch) ein fortgeschrittenes Modell vor.

Fazit

Wir haben anhand des SIR-Modells einen Streifzug durch einige sehr grundlegende epidemiologische Sachverhalte unternommen. Dabei haben wir insbesondere die Basisreproduktionszahl $R_0$ kennengelernt und die Rolle, die sie spielt. Wir haben auch gesehen, wie man die Maximalzahl der Kranken approximativ bestimmen kann, und daraus, weit man die Reproduktion ungefähr drücken muss, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Insbesondere scheinen die drastischen Maßnahmen durchaus angemessen.

Hoffentlich hat diese Exkursion zum allgemeinen Verständnis beigetragen. Ebenso wie bei physikalischen Zusammenhängen scheint mir ein grundlegendes Verständnis auch im mathematischen Sinne sehr hilfreich, um den Hintergrund von Handlungsempfehlungen zu verstehen.

Über Anmerkungen, Kritik und Verbesserungsvorschläge freue ich mich. Meine Kontaktdaten: Thomas Viehmann tv@lernapparat.de.

Hier kommen wir wieder an einen Punkt, bei dem ich darauf hinweisen muss, dass ich kein Epidemiologe bin, sondern von Beruf Trainer und Berater für Machine Learning und PyTorch.

Dank

Steve Lizcano hatte sehr hilfreiche Anmerkungen zu einem Entwurf dieses Blog-Posts. Aller Unzulänglichkeiten sind aber natürlich meine eigenen.

Zum Schluss

Dass unsere Aufmerksamkeit von CoViD gebunden wird, heißt bestimmt nichts Gutes für alle anderen Probleme dieser Welt, zum Beispiel für das Schicksal von vor Krieg geflohenen Menschen. Es gibt viele Tote und wird noch mehr geben, auch die wirtschaftlichen Auswirkungen von CoViD werden drastisch sein, aber es sollte uns nicht abhalten, auch an andere zu denken.